Über zehn Millionen Mal hat sie ihren Erstlingsroman Die geheime Geschichte allein in Deutschland verkauft, und zehn Jahre lang hat sie ihre schlagartig entstandene Fangemeinde zappeln lassen, bis nun endlich ihr nächstes Werk herauskam: Donna Tartt, mit ihrem sensationellen Debüterfolg aus dem Nichts zu einer Art kultisch verehrtem Popstar der Literaturwelt aufgestiegen, hatte eine schwere Bürde zu tragen: Sie musste beweisen, dass sie keine Eintagsfliege, dass ihr Roman kein One-hit Wonder“ war. Die Erwartungshaltung könnte größer nicht sein. Enttäuscht der Roman diese Erwartungen? Ja und nein. Ja, weil er etwas gänzlich anderes ist, eine andere Geschichte erzählt, sich eines anderen Stils, einer anderen Erzählweise, einer anderen Sprache, einer anderen Struktur bedient. Wer etwas Ähnliches wie Die geheime Geschichte, womöglich eine Art Fortsetzung erwartet, wird zwangsläufig enttäuscht sein. Und nein, weil der Roman großartig ist. In epischer Breite — auf über 750 Seiten! — erzählt Tartt eine Familiengeschichte aus einer trägen Kleinstadt im Mississippi der 1970er-Jahre. In behüteten Verhältnissen, die den Glanz besserer (und wohlhabenderer) Tage tapfer aufrecht zu erhalten versuchen, wächst Harriet Cleve im Schatten ihres Bruders Robin auf, der zwölf Jahre zuvor mit nur neun Jahren ermordet worden war, aufgeknüpft an einem Baum im Garten, während eines Familienfests. Der Mörder wurde nie gefunden; es macht aber auch nicht den Eindruck, als wäre mit aller Macht nach ihm gefahndet worden. Und auch die Familie, die über dieses tragische Unglück nie hinwegkam, scheint bestrebt zu sein, möglichst schnell Gras über die Sache wachsen zu lassen. Doch die mittlerweile zwölfjährige Harriet, die seinerzeit als Säugling „Zeugin“ des Mordes gewesen sein muss, beginnt — angestachelt durch Abenteuerromane von Stevenson, Conan Doyle oder auch Kipling, die sie so gern liest –, Nachforschungen anzustellen. Schon bald glaubt sie, den Täter ausgemacht zu haben, und schmiedet gemeinsam mit ihrem ihr treu ergebenen Freund Hely einen tödlichen Racheplan. Der kleine Freund lässt sich an wie ein Psychothriller um ein dunkles Familiengeheimnis à la Barbara Vine oder Elizabeth George. Doch obwohl der Mord die Atmosphäre des ganzen Romans bestimmt, ist das Buch kein Krimi, rückt die Frage nach Robins Mörder immer weiter in den Hintergrund. Donna Tartts zweiter Roman ist vielmehr ein fein nuanciertes Porträt einer von einem Unglück heimgesuchten Familie, eingebettet in eine außergewöhnlich stimmige und plastische Südstaatenkulisse, das sich viel Zeit für die Entfaltung sämtlicher Charaktere nimmt — und genau darin liegt seine Stärke. Ein an Tempo zunehmendes, spannendes und in jeder Hinsicht gelungenes Epos, das hoffen lässt, dass sich die Autorin für ihren nächsten Roman nicht wieder zehn Jahre Zeit lässt! –Christoph Nettersheim