Seit die Hydra des Nationalismus in Europa wieder ihre Häupter erhebt, setzen viele auf politische Integration. Doch supranationale Konglomerate bergen stets auch die Gefahr der Nivellierung. Zumal für ethnische Splittergruppen, die sich trotz — oder gerade wegen — ihrer Bedrängnis auf den Kult der eigenen Sitten und Gebräuche zurückgezogen haben und von denen es mehr gibt, als man annimmt. Mit einigen bemerkenswerten „Letzten ihrer Art“ macht uns Karl-Markus Gauß in seinem Buch Die sterbenden Europäer bekannt. Der österreichische Kulturpublizist nimmt uns mit zu den sephardischen Juden Sarajevos, die sich 1492 vor der spanischen Krone in den Schutz des Sultans geflüchtet hatten, binnen kurzer Zeit die Einheimischen kulturell assimilierten und sich nun im Gefolge nationalistischer Exzesse allmählich in alle Winde zerstreuen. Weiter geht es zu den inzwischen wieder in den Wäldern hausenden kläglichen Resten der von slowenischen Partisanen als Nazis verfolgten Gotscheer, Nachfahren deutsch-österreichischer Siedler, die im 14. Jahrhundert die unwirtliche Unterkrain gerodet und überhaupt erst urbar gemacht hatten. Im kalabrischen Hochgebirge lernen wir die katholischen Arbëreshe kennen, deren albanische Vorfahren nach Skanderbeks Tod vor 500 Jahren an die italienische Küste gespült worden waren. Und in der Lausitz die seit den Karolingern siedelnden slawischen Sorben, deren malerische Dörfer und Weiler in DDR-Zeiten reihenweise dem Braunkohletagebau oder der Zwangskollektivierung zum Opfer fielen. Der Streifzug endet in den trostlosen Geisterdörfern der durch Massenauswanderung ausgebluteten mazedonischen Aromunen, eines der ältesten und einst einflussreichsten Völker Europas, das heute beinahe vergessen ist. Trotz der scheinbaren Planlosigkeit bei der Auswahl der Ziele entführt Karl-Markus Gauß den Leser zu einer faszinierenden Reise voller Melancholie und Poesie, sprachlich grazil und kraftvoll erzählt. –Roland Detsch
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