Reise ins Ungewisse Paulus Hochgatterers Erzählung «Wildwasser» Läge mit der Erzählung «Wildwasser» ein Erstling vor, müsste das Staunen über die literarische Begabung ihres Verfassers gross sein. In der Tat ist dieser ein relativ junger Autor, jedoch kein ausgesprochener Newcomer. Als solcher darf er sich abseits jeder fernsehmedialen Quartett-Öffentlichkeit immerhin seit mehreren Jahren kleinerer und grösserer Auszeichnungen rühmen. Und darum verblüfft eigentlich anderes, nämlich wie es dem 1961 im niederösterreichischen Amstetten geborenen und in Wien als Kinderpsychiater praktizierenden Paulus Hochgatterer gelingt, den Leser in die Welt eines etwa sechzehnjährigen Wiener Gymnasiasten zu entführen. Gleichzeitig wird ein kleines Stück Literatur vorgelegt, wie wir es in dieser Frische und Aktualität aus deutschsprachiger Feder gerne öfter vor Augen hätten. Beruhigend normal Hochgatterers Protagonist ist kein typischer Computer-Freak, kein zeitgenössisches Internet-Kid. Jakob Schmalfuss, Sohn eines Zahntechnikers und einer Kindergärtnerin, lebt auf seine Weise beruhigend normal. Auf Weibliches reagiert er, wie er selbst zugibt, etwas verklemmt. Vertrauter ist ihm sein Mountainbike, und wie viele in seinem Alter ist er versessen auf Marken-Klamotten und «geile» Musik, Dancefloor oder Gruppen wie «Doop» oder «Die Doofen». Er mag Formel-1-Rennen und seinen Kater Posa, nur nicht die Zimmerpflanzen, mit denen Frau Schmalfuss die Wohnung seit dem Tod ihres Mannes in einen modrigen Tropen-Urwald verwandelt. So leidet Jakob insbesondere an der überfürsorglichen Art seiner Mutter und dem Erwachsenengetue seiner jüngeren Schwester Franziska, als er sich im Hochsommer 1995 auf das Fahrrad schwingt und ins südwestliche Niederösterreich aufbricht. Er denkt an seinen wassersportbegeisterten Vater, der vor zwei Jahren offiziell bestattet worden ist. In Wirklichkeit aber hatte man einen leeren Sarg in die Erde gesenkt, nie einen Leichnam gefunden und sich bei der Rekonstruktion der Todesumstände einzig und allein auf das ans Ennsufer gespülte Paddel des Vaters berufen, das Jakob nun wie eine Ikone mit auf seine aussergewöhnliche Reise nimmt. Freilich kommt dieser Ausflug ins Ungewisse nicht ohne die Accessoires männlich-jugendlicher Abenteuerromantik aus, etwa ein Autowrack mitten im Wald, sozusagen eine moderne Laubhütte, in der es sich auch so wunderbar ungestört sexuellen Phantasien nachhängen lässt. Aber auch diese Idylle trügt. Nach tief durchschlafener Nacht muss Jakob feststellen, dass an seinem Fahrrad der teure Sattel fehlt. Der mysteriöse Diebstahl bleibt ungeklärt. Er steht exemplarisch für die Begegnung dieses Schülers mit der Welt überhaupt, die latente Bedrohung, die überall lauert. Schon an den kleinen Verbrechen merkt Jakob, wie gemein und böse die Welt sein und sogar dazu zwingen kann, selbst zum Dieb zu werden. Die über einen Schulkameraden besorgten Drogen, die Jakob zwischendurch schluckt, bekommen ihm schlecht. An einem kleinen See bricht er zusammen und wird ausgerechnet von einem düster wirkenden katholischen Pfarrer aufgefunden. Nicht weniger düster erscheint die Pfarrei, wo der Ausreisser von dem Geistlichen und dessen Mutter langsam wieder aufgepäppelt wird. Merkwürdige Dinge gehen hier vor. Der Pfarrer hütet ein Geheimnis, und der Verdacht entsteht, dass er gemeinsam mit seiner Mutter abends ein kleines Mädchen, das psychisch gestörte Pflegekind Judith, quält. Es ist ein Lesevergnügen, wie die Erzählung diese Vorgänge in die Normalität überführt. Der Pfarrer ist kein Teufel, sondern entpuppt sich als durchaus sympathischer Mensch, der allerdings ein Trauma hat, nämlich am frühen Tod seiner Zwillingsschwester mitschuldig zu sein. Ebensowenig sind er und seine Mutter Kinderschänder, da die abendlichen Schreie der kleinen Judith von autoaggressiven Attacken herrühren. In Wirklichkeit kümmern sich die Ersatzeltern mit den ihnen gegebenen Mitteln geradezu rührend um das Kind. Für Jakob hingegen ist die Konfrontation mit Judiths Autismus eine ganz neue Erfahrung, wobei er eine grosse Sympathie für das Kind entwickelt und sich teilweise sogar mit ihm zu identifizieren vermag. Zwischen Leben und Tod Hochgatterer betreibt keine Schwarzweissmalerei. Die Welt aus der Sicht seines Schülers ist eine rätselhafte und differenzierte, eben auch eine unvollkommene, zwischen Hochgefühl und Katzenjammer, Sehnsucht und Enttäuschung, kurz zwischen Leben und Tod. Und das alles ist anschaulich erzählt, schnell und fliessend, ohne dass die Detailtreue litte. In eben den Details spürt man gelegentlich, dass Hochgatterer auch Mediziner ist. Das hat ihm bereits in seinem vielgelobten Erzählband «Die Nystensche Regel» von 1995 nicht geschadet, im Gegenteil. Das ungemein Belebende an dieser Erzählung aber ist letztlich ihr durchgängiger Humor, ihr punktuell glänzender Witz, wobei man in bezug auf die stilistische Umsetzung manchmal an J. D. Salingers «Der Fänger im Roggen» erinnert wird. Die Reihe von Texten mit jugendlichen Protagonisten wird hier würdig fortgesetzt: Es muss ja nicht immer gleich Törless sein. Bleibt anzumerken, dass die Literatur in Jakobs Leben keine Rolle spielt. Von ihr ist nur noch in anderer medialer Umsetzung die Rede, etwa in Form von verfilmter Literatur. Sollen wir tatsächlich darüber trauern, wenn wir feststellen müssen, dass Jakob zwar nicht mehr liest, aber selbst ein hervorragender Erzähler seiner eigenen Geschichte und Geschichten ist? Tatsächlich negiert «Wildwasser» die Bedeutung der Literatur für Jakobs Leben, aber gleichzeitig ist auch unter diesen Umständen wieder ein Stück lebendige Literatur entstanden. Und das ist nur einer der schönen Tricks dieser Geschichte. Volker Kaukoreit
— Dieser Text bezieht sich auf eine vergriffene oder nicht verfügbare Ausgabe dieses Titels.